Nach 25 Jahren psychiatrischer und psychotherapeutischer Tätigkeit denkt man oft, vieles an Leid gesehen zu haben. Dennoch stößt man immer wieder auf Geschichten, die einen auf eine Weise berühren, wie man es zuvor noch nicht gefühlt hat.

Heute möchte ich euch einen kleinen Einblick in meine Arbeit als Psychologin in einem pflegerischen Unternehmen in der außerklinischen Intensivpflege geben, anhand der Geschichte einer Patientin, die an einer irreversiblen und nicht aufzuhaltenden Erkrankung leidet. Der Besuch bei dieser Familie hat mich gelehrt, wie wichtig eine gut funktionierende Verbindung zwischen Patientin, Familie und Pflegekräften ist.

Alles begann in einer Teambesprechung mit der Frage: „Kannst du dich um das Team in der 1:1 Versorgung Familie X kümmern? Der vermeintliche Grund seien massive Schwierigkeiten mit dem Ehemann der Patientin, der respektlos und cholerisch mit den Pflegekräften kommunizieren würde.“

Zunächst vereinbarte ich eine Teamsupervision mit den Pflegekräften. Im Verlauf rückte die anfängliche Belastung durch das Verhalten des Ehemannes immer mehr in den Hintergrund und die eigentlichen physischen und vor allem psychischen Belastungen der Pflegekräfte aufgrund einer seit zwei Jahren gewachsenen Beziehung zu der Patientin, zu den drei kleinen Kindern und zu dem Ehemann rückten immer mehr in den Fokus. Insbesondere die Unsicherheit im Umgang mit der Patientin, die aufgrund des Fortschreitens der Erkrankung kaum noch kommunizieren konnte, stand am Ende im Mittelpunkt: Handeln wir wirklich noch in ihrem Sinne? Liegt sie gut, ist ihr warm genug, möchte sie Gesellschaft oder lieber ihre Ruhe? Und viele weitere unbeantwortete Fragen standen jeden Tag in der pflegerischen Tätigkeit im Raum.

Darüber hinaus beobachteten die Pflegekräfte in den vergangenen zwei Jahren die Veränderungen in der Familiendynamik. Zu Beginn der Erkrankung schliefen die Kinder neben dem Bett ihrer Mutter, frühstückten gemeinsam mit dem Papa an den Wochenenden in dem Pflegezimmer der Mutter. Sie kamen vom Kindergarten und der Schule und erzählten ihrer Mutter von den Geschehnissen des Tages. Doch zuletzt wünschten sie ihr nicht einmal mehr eine „Gute Nacht“, da sie sich aus kindlichem Selbstschutz und Feinfühligkeit für die Bedürfnisse ihrer Mutter distanzierten. Sie spürten die Not ihrer Mama, die auf ihre Kinder reagieren wollte, diesen die Aufmerksamkeit, Liebe und Zuwendung geben wollte, die sie benötigen und verdienen. Aber ihr Körper versagte und nichts von dem, was sie dachte, wurde in Bewegungsabläufe umgesetzt. Die Pflegekräfte spürten ihre eigenen emotionalen Belastungen in diesen eingeschränkten emotionalen Interaktionen, vor denen sie sich durch ihren unbewussten Rückzug schützten.

Kinder sind uns Erwachsenen häufig überlegen, weil sie in den Momenten auf ihr Gefühl hören und nicht auf ihren Verstand. Unsere Pflegekräfte haben Ähnliches aus ihrer Perspektive erlebt und gespürt, was die Kinder erlebt und gespürt haben, mit dem Unterschied, dass sie in einer anderen Rolle waren – es war ihr Job zu bleiben, zu pflegen, über ihre eigenen Gefühle hinwegzugehen, obwohl sie spürten, dass es ihnen und der Patientin oft nicht mehr guttat.

Nach der Teamsupervision nahm ich telefonisch Kontakt mit dem Ehemann auf, um einen Termin für ein Gespräch zu vereinbaren, um seine Perspektive zu erfahren, die ich im Anschluss in meine Überlegungen integrieren wollte. Anfangs war er sehr verhalten, nahezu skeptisch – hatte sich jemals in den vergangenen zwei Jahren jemand „Professionelles“ für seine Gefühle, Belastungen, Gedanken im Zusammenhang mit der Erkrankung seiner Ehefrau interessiert? Nach anfänglichen Vorbehalten ließ er sich auf ein Treffen ein, und ich besuchte die Familie in ihrem Zuhause, das seit zwei Jahren von „fremden“ Menschen 24 Stunden, 7 Tage die Woche bewohnt wurde.

Er begann zu erzählen, und schon währenddessen spürte ich, wie tief mich seine Worte berührten. Ein junger, voll berufstätiger Vater von drei kleinen Kindern erzählte mir eine Geschichte, die trotz vielfältiger Herausforderungen, Schicksalsschläge und physischer sowie psychischer Belastungen von Dankbarkeit und Positivität geprägt war, wie ich es zuvor noch nie erlebt habe.

Nach unserem Gespräch fuhr ich nach Hause, nahm als erstes meine Kinder in den Arm und spürte eine tiefe Dankbarkeit für all das, was ich in meinem Leben „leben“ darf und wie ich es leben darf.

In meiner Arbeit stand ich vor einem großen Dilemma: drei Perspektiven – Pflegefachkräfte, die an ihre physischen und psychischen Grenzen gekommen sind, eine Patientin, die aufgrund des Mangels an Kommunikationsfähigkeit auf die langjährigen Erfahrungen und die Hilfe der Pflegekräfte angewiesen ist, und ein Ehemann, der versucht, eine tragbare Situation für alle Beteiligten in seinem Zuhause zu schaffen und dabei ebenfalls in manchen Situationen an seine Grenzen stößt.

Wo liegt die einvernehmliche Lösung?

Wie in vielen Situationen zuvor kam ich zu dem Ergebnis, dass die Lösung in jedem selbst liegt. Meine Aufgabe bestand darin, jeden einzelnen in seiner Haltung, seinen Werten und persönlichen Grenzen zu stärken und ihnen Sicherheit in ihren Entscheidungen zu geben. Dies führte nicht zu dem vielleicht erwünschten „Happy End“ – alle sind in Harmonie miteinander und gehen den Weg gemeinsam zu Ende. Es führte dazu, dass eine Pflegekraft ohne Schulderleben ihre Überlastung ernst nahm und sich von ihrem Arzt Unterstützung einforderte, zwei Pflegekräfte entschieden für sich, nicht mehr in dieser 1:1-Versorgung zu arbeiten, drei Pflegekräfte gehen den Weg mit ihrer Patientin – vielleicht bis zum Ende – weiter. Der Ehemann denkt über therapeutische Unterstützung für sich und seine Kinder zur Verarbeitung der Situation nach, und die Patientin bekommt weiterhin die Möglichkeit durch neu eingestellte Pflegekräfte, die von den Erfahrungen der „alten“ Kollegen lernen können, weiter in ihrem Zuhause versorgt zu werden. Im Ergebnis konnte jeder individuell eine Entscheidung hinsichtlich seiner eigenen Bedürfnisse treffen, und dies geschah mit dem erforderlichen Maß an Respekt und Toleranz füreinander.

Vielen Dank, liebe Familie, für diese wertvollen Erfahrungen für mein berufliches und privates Leben.